Gaslighting in der Erziehung

Von der Mächtigkeit des Scheins und der Zerbrechlichkeit der Wahrnehmung

Emotionale Gewalt in der Erziehung hat viele Facetten und wird mittlerweile als Ursache diverser psychischer Störungen anerkannt.

Das große Problem ist: Emotionale Gewalt bzw. Misshandlung ist schwer zu greifen und noch schwerer zu beweisen. Hinzu kommt, dass Betroffene häufig ihre eigene Wahrnehmung in Zweifel ziehen und/oder sich selbst die Schuld an ihren schmerzhaften Erlebnissen geben.

Denn: Die Täter*innen verstehen es meist sehr gut, sich selbst in einem guten Licht darzustellen und Zweifel an ihrer Person oder ihrem Verhalten ins Gegenteil umzukehren: „Wir wollten doch nur dein Bestes und haben so viel gegeben. Es war immer sehr schwierig mit dir.“ Oder: „Diese Vorwürfe sind allesamt frei erfunden und wir wissen gar nicht, warum du uns das antust. Das macht uns wirklich fertig.“

Zurück bleiben Betroffene, die kaum eine Chance haben, die eigenen Erlebnisse realistisch zu bewerten. Eine einmal verrückte Wahrnehmung lässt sich nicht einfach wieder ins Lot bringen, zumal die meisten Betroffenen ihre gesamte Kindheit und Jugend mit einem elterlichen Verhalten konfrontiert waren, das ihnen suggerierte, dass sie nicht in Ordnung waren, dass sie die Schuld an den Problemen trugen, dass sie sich anstellten. Selbst als Folge auftretende psychische Beeinträchtigungen werden häufig als Beweis dafür angeführt, dass das Kind schon immer „schwierig“, „anders“ oder „übersensibel“ war.

Was ist Gaslighting?
Seit einiger Zeit wird in diesem Zusammenhang vom sogenannten „Gaslighting“ gesprochen. Nach Dr. Sandra Konrad, Psychologin und Paartherapeutin, bezeichnet Gaslighting „[…] eine Form von emotionalem Missbrauch. Dabei manipuliert der Täter sein Opfer so, dass es am Ende das Gefühl hat, seine Wahrnehmung stimme nicht mehr. Schlimmstenfalls geht es so weit, dass das Opfer denkt, es sei verrückt geworden, weil ihm ja ständig suggeriert wird: Das, was du denkst, sagst, fühlst oder tust, ist falsch beziehungsweise entspricht nicht der Realität.“ (Quelle: https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/inzest-liebe-manipulation-bis-in-den-wahnsinn-so-missbrauchen-gaslighter-ihre-opfer_id_7444752.html; abgerufen am 09.02.2018, 19:39 Uhr)

Das Kind lernt, dass es seinen Gefühlen und seiner Erinnerung nicht trauen kann, dass diese falsch sind. Es lernt, dass die Eltern gut sind und es selbst undankbar ist. Es lernt, dass es allein die Schuld am strafenden Verhalten der Eltern trägt. Dass diese gar nicht anders konnten.

Wenn du selbst betroffen bist, erkennst du vielleicht die eine oder andere Aussage wieder:

  • „Willst du sagen, deine Mutter/dein Vater lügt?“
  • „Das habe ich nie gesagt.“
  • „Das habe ich nie getan.“
  • „Du lügst doch wie gedruckt.“
  • „Erzähl doch keinen Mist.“
  • „Das _kann_ gar nicht sein.“
  • „Mir selbst tut das mehr weh als dir.“ [Strafe, Schläge etc.]
  • „Das hast du dir selbst zuzuschreiben.“
  • „Stell dich nicht so an.“
  • „Du machst schon wieder aus einer Mücke einen Elefanten.“
  • „Immer, wenn es mal schön ist, musst du alles kaputtmachen.“
  • „Wenn du willst, kannst du alles.“
  • Zu Freunden des Kindes: „Dafür kannst du dich bei XY bedanken.“
  • „Mit dir stimmt doch was nicht.“
  • „Du gehörst doch in die Irrenanstalt.“
  • „Du hattest schon immer eine lebhafte Fantasie.“
  • „Du wolltest schon immer mit dem Kopf durch die Wand.“
  • „Du weißt gar nicht, wie gut du es hast.“
  • „Ich glaube, ich habe zwei Töchter/Söhne. Alle sagen immer, was für ein nettes Kind du bist.“
  • „Du hast zwei Seiten. Aber das werden die anderen auch noch bemerken.“
  • „Schrei ruhig, dann wissen alle anderen endlich mal, was für ein furchtbares Kind du bist!“

Anmerkung: Nach dem Verfassen der obigen Auflistung von Aussagen meiner Eltern bin ich auf einen Artikel der Autorin „KLEINERGAST“ gestoßen, den ich euch unbedingt ans Herz legen möchte. Die Übereinstimmungen sind irre.

Die o. g. Autorin wird neben einer weiteren Autorin als Quelle für folgende, etwas allgemeiner formulierte und – wie ich finde – sehr treffende Beschreibung des Täterverhaltens im Wiki-Eintrag angeführt:

„Der Täter oder die Täterin

  • spricht den Gefühlen des Opfers ihre Berechtigung ab oder interpretiert sie um,
  • behauptet, man hätte etwas getan oder gesagt, woran man sich selbst jedoch nicht erinnern kann,
  • behauptet oder leugnet, selbst etwas Bestimmtes getan oder gesagt zu haben,
  • bestreitet, dass ein bestimmtes Ereignis wirklich stattgefunden hat,
  • wirft unzutreffende Realitätswahrnehmung oder falsche -beurteilung vor,
  • gibt dem Opfer die Schuld, zum Beispiel für Streit, Schwierigkeiten in der Beziehung, das Scheitern von Freundschaften, Probleme am Arbeitsplatz oder Lebens- oder anderen Problemen,
  • dreht dem Opfer die Worte im Mund herum und/oder legt ihm Worte in den Mund,
  • wirft unangemessenes Verhalten, Körpersprache oder Bekleidung vor,
  • redet dem Opfer ein, dass dieses etwas nicht kann, nicht gut genug ist, unqualifiziert ist,
  • bringt andere Menschen im Umfeld des Opfers (ggf. auch durch Manipulation) auf seine Seite, instrumentalisiert sie in seiner „Inszenierung“, veranlasst sie zum Beispiel, in Gesprächen Partei für den Täter zu ergreifen oder dessen Aussagen zu bestätigen,
  • zeigt sein wahres Gesicht als Gaslighter nur dem Opfer gegenüber, jedoch nicht anderen Menschen gegenüber oder in Gesellschaft.“

Meine Erfahrungen mit Gaslighting
Wer mich kennt weiß, dass wirklich große Schwierigkeiten damit habe, meiner eigenen Wahrnehmung zu trauen und meine Erlebnisse zu bewerten. Die wundervolle Twitteruserin @ostseenudel hat dazu mal einen Beitrag verfasst, der mich noch immer bis ins Mark berührt.

Mittlerweile mache ich Fortschritte, verfalle jedoch immer wieder in alte Bewertungsmuster und Schuldgefühle.

Weil ich aus Gesprächen weiß, dass es vielen so geht, möchte ich im Folgenden ein paar Erlebnisse schildern. Vielleicht werden Parallelen deutlich und die Schilderungen können ein wenig bei der Bewertung eigener Erfahrungen helfen.

Meine Mutter ist eine Meisterin des Gaslightings und konnte meinen Vater ganz hervorragend instrumentalisieren. Das entlässt ihn nicht aus seiner Verantwortung, erklärt jedoch sein Verhalten bis zu einem gewissen Punkt.

Egal, wie abstrus und offensichtlich falsch die Behauptungen meiner Mutter waren, mein Vater gab ihr recht. Äußerte ich, dass sie Unrecht hatte oder sogar log, flippte er aus.
Meine Eltern demonstrierten eine Einheit und bezeichneten sich selbst auch als solche. Sie waren zu zweit, ich war alleine. Meine Mutter manipulierte meinen Vater dahingehend, dass er glaubte, sie vor mir beschützen zu müssen. Ich log, ich benahm mich furchtbar, ich war der Aggressor, ein Monster. Er glaubte das. Ich glaube das.

Ich trug die Schuld an den Konflikten, er musste mich also zwangsläufig verprügeln. Das tat sie auch, aber nicht so effektiv. Er war einfach kräftiger und ausdauernder als sie. (Das soll an dieser Stelle reichen.) Wenn mein Vater mich schlug und trat, stand meine Mutter –  die Arme vor der Brust verschränkt –  daneben und schaute triumphierend zu. Im Anschluss gab es Hausarrest und Verbote, wobei meine Mutter immer diejenigen Dinge „strich“, die mir zu der Zeit am wichtigsten waren. Anschließend stand sie pfeifend/trällernd in der Küche.

Besonders bösartig und manipulativ wurde sie, wenn sie eifersüchtig war. Wenn sie das Gefühl hatte, dass die Beziehung zwischen mir und meinem Vater eine gute war.

Aversive Gefühle meinerseits hatten keine Berechtigung und wurden als Angriff gewertet. Ich hatte keinen Grund, wütend, traurig oder ängstlich zu sein. Ich war einfach nur boshaft und musste dafür bestraft werden.

Mit drei Jahren – ich hatte aus Gründen sehr große Angst vor dem Alleinsein – wollte ich meine Eltern zum Daheimbleiben bewegen, indem ich ihnen androhte, aus dem Fenster (Hochhaus) zu springen, wenn sie an diesem Abend weggingen. Meine Mutter ging zum Fenster, öffnete es und sagte: „Wir lassen uns doch von dir nicht manipulieren. Spring doch! Dann bist du aber tot und ganz alleine. Und wir werden sehr traurig sein. “ Dann gingen sie aus.

Ab einem gewissen Alter kann ich mich daran erinnern, dass schnelle Bewegungen meiner Eltern ein reflexhaftes Arm-vors-Gesicht-Reißen zur Folge hatten. Als meine Mutter sich mal mit zwei Nachbarinnen unterhielt und sich zu schnell zu mir umdrehte, war ihr meine Reaktion sehr peinlich und sie versuchte, die Situation mit einem bestürzten und besorgten „Mein Gott, was ist denn los?“ zu retten. „Ich weiß auch nicht, was das arme Kind hat …“

Mit etwa 13, 14 Jahren habe ich mal vergessen, die Wohnzimmertür zu schließen, und meine Vögel fliegen lassen. Sie fielen hinter den Wohnzimmerschrank und kamen nicht mehr heraus. Meine Mutter verbot mir, etwas zu unternehmen. Sie meinte, ich sei selbst schuld daran, dass sie jetzt „eingehen“ würden. Die Situation eskalierte und ich beschmipfte sie,  weil ich einfach unglaublich verzweifelt war und Angst um meine Vögel hatte. Sie erzählt noch heute, dass dadurch  etwas in ihr zerbrochen sei, dass ich sie damit so unglaublich verletzt hätte. Nicht ihr Verhalten war falsch, sondern meines.

Nach einem Streit durfte ich häufig nicht telefonieren, z. B. um Freundinnen Bescheid zu geben, dass ich mich nicht wie geplant mit ihnen treffen konnte. Sie warteten draußen oft vergeblich auf mich. Später telefonierte meine Mutter häufig mit meinen Freundinnen und erzählte ihnen, wie furchtbar ich mich wieder aufgeführt hätte und dass ich schuld daran sei, dass ich sie versetzt hätte bzw. sie mich nicht wie verabredet treffen konnten.

Als ich älter wurde, bekam ich das Auto nicht, wenn ich mich „daneben benommen“ hatte und mein damaliger Freund musste deshalb trotz anderweitiger Absprachen meistens fahren. Der Standardkommentar meiner Mutter: „Dafür kannst du dich bei Hannah bedanken.“

Meinem besten Freund öffnete sie einmal die Tür und sagte vollkommen zusammenhangslos und unvermittelt: „Hallo XY, wir haben Hannah übrigens nie geschlagen.“ Er erzählt bis heute davon und versteht es noch immer nicht.

Eine andere Freundin war häufiger bei uns zu Besuch. Im Nachhinein hat sie mir erzählt, dass sie Angst vor meiner Mutter hatte, weil sie natürlich mitbekam, was meine Eltern taten. Das sei sehr verstörend gewesen, weil besonders meine Mutter zu ihr selbst immer ausgesprochen nett gewesen sei. Meine Freundin habe dies immer als „sehr falsch“ empfunden.

(Es gäbe noch viele Situationen mehr zu beschreiben, aber mehr als ein Eindruck kann  hier nicht vermittelt werden.)

Vor anderen Familienmitgliedern, Nachbarn, Freunden der Familie etc. hat meine Mutter mich übrigens nie schlechtgemacht. Da war es viel wichtiger, eine perfekte Familie zu simulieren.

Ich habe einmal versucht, mit meiner Mutter darüber zu reden, als ich bereits nicht mehr zu Hause wohnte. Sie meinte, meine Eltern hätten mir einfach zu viel durchgehen lassen, seien nicht konsequent genug gewesen.

Noch immer behaupten meine Eltern zuweilen, dass bestimmte Gespräche nicht stattgefunden oder sie bestimmte Aussagen nie getroffen hätten. Gut ist, dass ich dabei heutzutage fast immer einen Zeugen habe. Ich treffe sie, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt, nicht mehr alleine.

Vor etwa 10 Jahren hat mein Vater mir in einer solchen Situation zum ersten Mal und einzigen Mal in einem kleineren Konflikt recht gegeben. Der Abend war natürlich gelaufen.

Seit einigen Jahren wird es nun ganz abstrus. Mein Vater tut inzwischen nicht mehr selbstverständlich das, was meine Mutter will, und seitdem läuft es nicht mehr so gut zwischen den beiden. Jetzt versucht sie, mich gegen ihn aufzuhetzen. Ich unterbreche diese Versuche natürlich sofort.

Gaslighting tritt häufig im Zusammenhang mit physischer und sexueller Misshandlung in Erscheinung. Die Täter*innen haben natürlich ein großes Interesse daran, dem betroffenen Kind die Schuld für das eigene gewalttätige Verhalten zuzuschreiben bzw. dessen Wahrnehmung in Zweifel zu ziehen.

Dies gilt auch für sexuelle Gewalt, die durch weitere Täter*innen verübt wird. Ein Kind, das seiner eigenen Wahrnehmung nicht traut, ist das perfekte Opfer.

Aber auch wenn ein Kind nicht körperlich/sexuell misshandelt wird, sind die Folgen von Gaslighting fatal.

Folgen
Diese und andere Erlebnisse führten dazu, dass ich meiner Wahrnehmung überhaupt nicht mehr trauen konnte. Ich dachte viele Jahre lang, dass ich ein kleines Monster (gewesen) wäre, dass meine Eltern sehr unter mir gelitten haben mussten, dass ich undankbar wäre. Ich hatte und habe immense Schuldgefühle.

Dies zeigen zum Beispiel diese Tagebucheinträge als Vierzehnjährige:
[…] Ich will versuchen, mit Mutti und Papi besser auszukommen, denn eigentlich kann ich mir ja keine besseren Eltern wünschen und sie haben es wirklich schwer mit mir. Aber manchmal sind auch sie sehr schwer zu verstehen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich in der Pubertät bin. […]
[…] Ich habe in meinem Leben noch nie etwas Schweres erfahren und bin doch oft so unzufrieden. Wieder einmal merke ich, wie egoistisch ich bin. Ich bin nur zufrieden, wenn alles, aber auch wirklich alles nach meinem Köpfchen geht. […] Ich habe die besten und liebsten Eltern, kann zur Schule gehen, habe Freunde, bekomme so vieles und doch bin ich oft so unzufrieden. […]

Ich fühlte und fühle mich häufig isoliert, von der Welt abgeschnitten und innerlich zerrissen. Ich war und bleibe alleine. Obwohl ich das nicht bin.

Ich rechne immer mit dem Schlimmsten und vermeide Vorfreude.

Ich kann nicht gut mitteilen, wenn es mir schlecht geht. Zu vertrauen fällt mir extrem schwer.

Ich habe mehrere Beziehungen geführt, in denen sich das Muster wiederholt hat.

Ich kann nicht mit aversiven Gefühlen umgehen. Das führt dazu, dass ich entweder sehr wenig fühle oder von Emotionen überrollt werde.

Ich habe ich ein fast unstillbares Bedürfnis nach Verständnis, Trost und der Bestätigung meiner Wahrnehmung. Bringt man mir all dies entgegen, kann ich es jedoch nicht annehmen.

Situationen, in denen mir nicht geglaubt oder in denen mir etwas unterstellt wird, was ich nicht getan habe, triggern mich unwahrscheinlich. Sie versetzen mich in einen emotionalen Ausnahmezustand, der sehr lange anhält und aus dem ich nur sehr schwer herausfinde.

Wenn ich verletzt werde, suche ich die Schuld häufig bei mir selbst und verhalte mich extrem selbstschädigend.

Selbstfürsorge fällt mir extrem schwer.

Ich brauche Zeugen. Ich brauche die ständige Versicherung, dass meine Wahrnehmung und meine Erinnerung „richtig“ sind. Und trotzdem kann ich dies dann oft nicht – oder nur kurz – glauben und verfalle in Selbstzweifel. Dann wieder von vorn. Eine Dauerschleife.

Es fällt mir schwer, meine Erlebnisse zu bewerten. Ich schwanke ständig zwischen der vermeintlichen „Erkenntnis“, dass ich misshandelt wurde, und der Sicherheit, dass ich mich bloß anstelle.

Ich traue meiner Erinnerung nicht. Ich weiß nicht, was Fantasie, Traum oder Realität war. Ich weiß nicht, ob andere Dinge, an die ich mich erinnere, tatsächlich der Wahrheit entsprechen. Obwohl ich es weiß.

#helptalkingabout

Jeder Mensch kann helfen!

Der Suizid von Chester Bennington und der Skandal um die Regensburger Domspatzen beherrschen die Medien und werden in den sozialen Netzwerken betroffen diskutiert.

Im Fall der Domspatzen werden die Täter größtenteils verurteilt. Es gibt jedoch noch immer Menschen, die diese furchtbaren Taten relativieren und verharmlosen, wie etwa Frau von Thurn und Taxis. Das ist kontraproduktiv und demütigt die Betroffenen ein weiteres Mal.

Häufig werden die Misshandlungen darüber hinaus zur Untermauerung der eigenen politischen und/oder religiösen Meinung missbraucht. Auch das hilft niemandem, die Opfer bleiben allein, sind lediglich Mittel zum Zweck.

Der Suizid von Chester Bennington, der in seiner Kindheit ebenfalls (sexuelle) Gewalt erleben musste und unter Depressionen litt, erschüttert die Musikgemeide. Wieder einmal kursieren gut gemeinte Ratschläge in den Netzwerken: „Holt euch doch bitte Hilfe, wenn ihr unter Depressionen oder Suizidgedanken leidet!“ „Bleibt nicht alleine!“ „Redet über eure Probleme!“

Wir, die wir in unserer Kindheit Gewalt erlebt haben, sollen unser Schweigen brechen. Heißt es. Das sei gut für uns. Heißt es. Und heilsam.

Wir, die wir in unserer Kindheit Gewalt erlebt haben, sind deine Familienangehörigen, Freunde, Arbeitskollegen und Chefs. Wir sind deine Nachbarn. Und Kinder.
Wir wurden geschlagen, gedemütigt und sexuell misshandelt. Wir wurden gemobbt und ignoriert, vernachlässigt und bedroht. All das hat Spuren hinterlassen. Gewalt vergisst man nicht.

Als Kinder durften wir nicht reden. Wir hatten Angst, wir schämten uns, fühlten uns schuldig. Wir mussten die Täter schützen. Häufig, weil wir sie brauchten. Sie liebten.

Heute, als Erwachsene, haben wir mit den Folgen unserer Erfahrungen und den Folgen des Schweigens zu kämpfen. Wir leiden unter Depressionen, Ängsten, Belastungsstörungen, Süchten und anderen psychischen und physischen Erkrankungen.

Wir müssen das Schweigen brechen, um das Erlebte zu verarbeiten. Ich glaube jedoch, dass das in Deutschland noch nicht möglich ist. Kaum jemand möchte damit belästigt werden. Zumindest nicht im persönlichen oder beruflichen Umfeld. Als Erwachsener riskiert man seinen „guten Ruf“, sein Ansehen, seine Karriere und Glaubwürdigkeit, wenn man erlebte Gewalt oder daraus resultierende psychische Erkrankungen thematisiert. Man verliert den Respekt seiner Mitmenschen, riskiert Gehaltseinbußen und Getuschel.

Bricht man sein Schweigen, wird man darauf reduziert, ein Opfer zu sein. Fähigkeiten und Qualifikationen verblassen. Jemanden als Opfer zu bezeichnen ist nicht nur in der Jugendsprache eher eine Beleidigung als eine Bekundung von Mitgefühl. Opfer sind schwach. Sie werden als wehleidig wahrgenommen.

Misshandlung ist und bleibt ein persönlicher Makel. Menschen sind peinlich berührt, wenn sie davon erfahren. Man redet noch immer nicht über „so etwas“. Gewalt wird bagatellisiert. Auch von Betroffenen. Zwangsläufig.

All dies lässt uns einsam bleiben, weil wir einen wichtigen Teil von uns verbergen müssen. Weil uns niemand wirklich kennt.

Das Leugnen und Bagatellisieren von Gewalterfahrungen macht eine nachhaltige Präventionsarbeit und Hilfe unmöglich. Wir müssen ehrlich zu unseren Kindern sein. Wir müssen sagen dürfen: „Es ist furchtbar, was du erlebt hast. Mir ist das auch passiert. Ich weiß wie du dich fühlst und ich helfe dir.“ Es ist nicht möglich, misshandelten Kindern und Jugendlichen ihre Scham zu nehmen, wenn erwachsene Betroffene sich weiterhin verstecken müssen.

Du fragst dich, was das mit dir zu tun hat?
Du bist selbst nicht betroffen und du kennst auch niemanden, der es ist?

Du siehst uns nur nicht.

Eine nachhaltige Bekämpfung von Gewalt gegen Kinder ist nur möglich, wenn wir alle ehrlich und respektvoll mit dem Thema umgehen und die Folgen von Gewalt benennen und anerkennen.

Deshalb bitte ich dich:

  • Mache das Problem öffentlich und hilf so, das Schweigen zu brechen.
  • Teile diesen Artikel auf Twitter und Facebook und diskutiere ihn.
    #helptalkingabout

    Schweigst du selbst oder müssen es Menschen, die du kennst? Und warum? Was befürchten sie? Was befürchtest du?
    Hast du dein Schweigen bereits gebrochen? Wie haben deine Mitmenschen reagiert? Was ist passiert?

  • Frage nach, wenn jemand etwas andeutet. Sei parteiisch. Zeige Verständnis und Interesse.
  • Höre zu und hinterfrage deine eigenen Gedanken und Gefühle.
  • Sprich mit deinen Freunden, mit deiner Familie über das Thema. Rege einen Dialog an, diskutiere.

Tim Roth, ein britischer Schauspieler und Überlebender von sexueller Gewalt, der mittlerweile in Amerika lebt, hat mal in einem Interview gesagt: “There’s a quality about life here [in America; Anmerkung der A.] where people talk more, even about issues that in Britain are considered very private. It’s absolutely wonderful for someone who’s been living down a dark hole.“

Was Roth über Großbritannien sagt, lässt sich eins zu eins auf Deutschland übertragen: Noch ist Misshandlung Privatsache. Ich glaube aber, dass wir von der amerikanischen Gesprächskultur lernen können.

Wir brauchen eine Kultur der Offenheit, eine Kultur des Sprechens und Zuhörens. Wir brauchen die Bereitschaft, einander zu verstehen und mitzufühlen.

Wir brauchen den Mut und das Interesse unserer Mitmenschen. Auch wenn die Auseinandersetzung mit diesem Thema sie vielleicht mit ihrer eigenen Schuld, ihrem eigenen Schmerz konfrontiert.

Und wir brauchen eine angemessene therapeutische Versorgung. Es gibt in Deutschland keine ausreichenden Hilfs- und Therapieangebote für Opfer von Traumatisierungen im Kindesalter.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die sich diesem Thema gegenüber öffnet. Eine Gesellschaft, in der Überlebende ihr Schweigen brechen können.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der Gewalt an Kindern wirklich und von Herzen geächtet wird.

Trage dazu bei! Unterstütze uns!

Du kannst helfen.

Hannah (die aus den oben genannten Gründen noch zu viel Angst hat, ihren vollständigen Namen zu nennen und deshalb vorerst anonym bleiben möchte)